Pepe Escobar über den Besuch der Taliban in Tianjin

Intro

Witzig: Tianjin war die erste Stadt, in der ich Anfang der 90ger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zum ersten Mal Fuß auf die Erde der Volksrepublik China setzte, indem ich von einer Fähre aus Honkong stieg. Tianjin war damals eine einzige Baustelle, auf der etwas mehr als 10 Millionen Menschen unterwegs gewesen sind.

Dieser erste Eindruck von der Volksrepublik hatte damals meinen deutschen Provinzschädel, dessen Metropolen-Erfahrungen sich auf Städte wie Berlin, Paris oder Rom beschränkten, doch zunächst ein wenig überfordert.

Heute ist es fertig gebaut und eine moderne Großstadt! In dieser Großstadt fand diese Woche das bisher wichtigste Treffen zwischen der Regierung der VR China und den Taliban statt.

Ich übersetze wieder, was Pepe Escobar dazu schreibt.

Es ist jetzt nicht so, dass ich Pepe immer kritiklos folge, in Bezug auf Myanmar sind wir in vielen Punkten sicher unterschiedlicher Ansicht, in Sachen Zentralasien ist er aber aus meiner Sicht die unzweifelhafte Autorität, Ich habe das Ereignis, das Treffen hochrangiger Taliban mit Außenminister Wang Yi auch in anderen Quellen studiert. Darunter auch ein Artikel auf Tichys Einblick, den ich allerdings nicht fertiglas, denn der war so dermaßen dummdeutsches Von-nix-ne-Ahnung-aber-zu-allem-seinen-Senf-knallen-müssen, dass er nur als antikommunistische Satire lesbar wäre – z.B. erklärt der Teutone seinem Publikum, China sei als Kolonialmacht unterwegs – für eine solche habe ich aber gerade keine Zeit, so witzig ist das auch wieder nicht. Kurz: CGTN, Straight Times, ShanghaiEye魔都眼 und zahlreiche andere berichten ausführlich über das Treffen und seine Inhalte, was die Einordnung des Treffens anbelangt, bringt es Pepe exakt auf den Punkt.


The Taliban go to Tianjin

(Anmerkung des Übersetzers: Den Titel übersetze ich nicht, erstens versteht ihn jeder, zweitens kann man ihn nicht übersetzen, da er eine pop-kulturelle Charakterisierung darstellt, etwas wie „Frankie goes to Hollywood“)

China und Russland werden der Schlüssel zur Lösung eines uralten geopolitischen Rätsels sein: Wie kann der „Friedhof der Imperien“ befriedet werden?

(AdÜ: Und diese Unterüberschrift sagt uns auch, warum der Autor von Tichys Einblicken so wütend ist – schließlich sind die reichlich NATOaffin und müssen sich langsam daran gewöhnen, dass die Niederlage gegen die Taliban der Anfang vom Ende der NATO-Weltherrschaft ist, was schwer für die zu schlucken geht! Zwar ist die Neiderlage weniger spektakulär, als gegen die Viet Kong, aber von sehr viel größerer Tragweite!)

Dies ist also die Art und Weise, wie der Ewige Krieg in Afghanistan endet – wenn man es denn ein Ende nennen kann. Vielmehr ist es eine amerikanische Neupositionierung.

Wie dem auch sei, nach zwei Jahrzehnten Tod und Zerstörung und unsagbaren Billionen von Dollar haben wir es nicht mit einem Knall – und auch nicht mit einem Wimmern – zu tun, sondern mit einem Bild der Taliban in Tianjin, einer neunköpfigen Delegation unter der Leitung des obersten politischen Kommissars Mullah Abdul Ghani Baradar, die feierlich Seite an Seite mit Außenminister Wang Yi posiert.

Seitliche Echos eines anderen Ewigen Krieges – im Irak – klingen an. Zuerst gab es einen Knall: die USA nicht als „neue OPEC“, wie es sich das neokonservative Mantra vorgestellt hatte, sondern die Amerikaner bekamen nicht einmal das Öl. Dann kam das Wimmern: „Keine Truppen mehr“ nach dem 31. Dezember 2021 – mit Ausnahme der sprichwörtlichen „Vertragsarbeiter“ – (Contractor) -Armee.

Die Chinesen empfingen die Taliban zu einem offiziellen Besuch, um ihnen wieder einmal einen sehr einfachen quid-pro-quo-Vorschlag zu unterbreiten: Wir erkennen Ihre politische Rolle im afghanischen Wiederaufbauprozess an und unterstützen sie, wenn Sie im Gegenzug alle möglichen Verbindungen zur Islamischen Bewegung Ostturkestan abbrechen, die von der UNO als terroristische Organisation eingestuft wird und für eine Reihe von Anschlägen in Xinjiang verantwortlich ist.

Der chinesische Außenminister Wang sagte explizit: „Die Taliban in Afghanistan sind eine zentrale militärische und politische Kraft in dem Land und werden eine wichtige Rolle im Prozess des Friedens, der Versöhnung und des Wiederaufbaus spielen.“

Dies folgt auf Wangs Äußerungen im Juni nach einem Treffen mit den Außenministern Afghanistans und Pakistans, als er nicht nur versprach, „die Taliban zurück in den politischen Mainstream zu bringen“, sondern auch ernsthafte innerafghanische Friedensverhandlungen zu veranstalten.

(AdÜ: das ist der entscheidende und wichtige Punkt, den die chinesischen Kommunisten leicht verstehen, politische Kräfte in Teutonistan aber nicht: du kannst die mächtigste politische Kraft eines Landes nicht ausgrenzen, doch du kannst sie, wenn sie, wie die Taliban, militant und radikal sind, bändigen und integrieren, aber dafür benötigt man wohl „chinesische“ Tugenden, deutsches Gepolter und deutsche Rechthaberei gießen nur Öl in’s Feuer)

Inzwischen ist klar geworden, dass der quälend langsame Prozess in Doha zu nichts führt. Doha wird von der erweiterten Troika – USA, Russland, China, Pakistan – zusammen mit den unversöhnlichen Gegnern, der Regierung in Kabul und den Taliban, geführt.

Taliban-Sprecher Mohammad Naeem betonte, dass es bei dem Treffen in Tianjin vor allem um politische, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Fragen ging, wobei die Taliban Peking versicherten, dass afghanisches Territorium nicht von Dritten gegen die Sicherheitsinteressen der Nachbarländer ausgebeutet werde.

In der Praxis bedeutet dies, keinen Unterschlupf für uigurische, tschetschenische und usbekische Dschihadisten und anrüchige Banden der Sorte ISIS-Khorasan.

Tianjin wurde als eine Art Juwel in der Krone der aktuellen diplomatischen Offensive der Taliban hinzugefügt, die bereits auch Teheran und Moskau erreicht hat.

In der praktischen Umsetzung bedeutet dies, dass die Shanghai Cooperation Organization (SCO), angeführt von der strategischen Partnerschaft zwischen Russland und China, der eigentliche „Mittelsmann“ für ein mögliches innerafghanisches Abkommen ist.

Russland und China beobachten gewissenhaft, wie die Taliban mehrere strategische Bezirke in Provinzen von Badachschan (tadschikische Mehrheit) bis Kandahar (paschtunische Mehrheit) erobern. Die Realpolitik gebietet, dass die Taliban als ernsthafte Gesprächspartner akzeptiert werden müssen!

Der pakistanische Premierminister Imran Khan (R) trifft sich am 18. Dezember 2020 in Islamabad mit dem Taliban-Mitbegründer Mullah Abdul Ghani Baradar (2d vom Fenster auf der linken Seite des Bildes) und seiner Delegation. Bild: AFP / Büro des pakistanischen Premierministers

Pakistan arbeitet derweil im Rahmen der SCO immer intensiver mit. Premierminister Imran Khan könnte nicht deutlicher werden, wenn er sich an die öffentliche Meinung in den USA wendet: „Washington strebte eine militärische Lösung für Afghanistan an, obwohl es nie eine gab“, sagte er.

„Und Leute wie ich, die immer wieder sagten, dass es keine militärische Lösung gibt, die die Geschichte Afghanistans kennen, wurden beschimpft – Leute wie ich wurden als antiamerikanisch bezeichnet“, sagte er. „Ich wurde Taliban Khan genannt.“

Heute sind wir alle Taliban

Tatsache ist, dass „Taliban Khan“, „Taliban Wang“ und „Taliban Lawrow“ alle auf derselben Seite stehen.

Die SCO arbeitet mit allem Einsatz daran, bei der nächsten Verhandlungsrunde im August einen Fahrplan für eine politische Einigung zwischen Kabul und den Taliban vorzulegen. Wie ich bereits berichtet habe – siehe z. B. hier und hier – geht es um ein umfassendes wirtschaftliches Integrationspaket, bei dem die Belt and Road Initiative und der mit ihr verbundene chinesisch-pakistanische Wirtschaftskorridor mit Russlands Greater Eurasia Partnership und der Gesamtkonnektivität zwischen Zentral- und Südasien zusammenwirken.

Ein stabiles Afghanistan ist das fehlende Glied in dem, was man als den künftigen SCO-Wirtschaftskorridor bezeichnen könnte, der alle eurasischen Akteure zusammenschließen wird, von den BRICS-Mitgliedern Indien und Russland zu allen zentralasiatischen „Stans“.

Sowohl die Regierung von Präsident Ashraf Ghani in Kabul als auch die Taliban sind mit im Boot. Der Teufel steckt natürlich in den Details, wie das interne Machtspiel in Afghanistan gehandhabt werden kann, damit es gelingt.

Die Taliban haben ihren Crashkurs in Geopolitik und Geoökonomie absolviert. Anfang Juli führten sie in Moskau ein ausführliches Gespräch mit dem Kreml-Beauftragten für Afghanistan, Samir Kabulow.

Parallel dazu räumte sogar der ehemalige afghanische Botschafter in China, Sultan Baheen – selbst kein Taliban – ein, dass Beijing für die Mehrheit der Afghanen, unabhängig von ihrem ethnischen Hintergrund, der bevorzugte Gesprächspartner und Vermittler in einem sich entwickelnden Friedensprozess ist.

Dass die Taliban Gespräche auf hoher Ebene mit der strategischen Partnerschaft zwischen Russland und China suchen, ist Teil einer sorgfältig kalkulierten politischen Strategie. Das bringt uns jedoch zu einer äußerst komplexen Frage: Von welchen Taliban ist die Rede?

So etwas wie „einheitliche“ Taliban gibt es nicht. Die meisten Spitzenpolitiker der alten Schule leben im pakistanischen Belutschistan. Die neue Generation ist weitaus unbeständiger – und fühlt sich nicht an politische Zwänge gebunden. Die Islamische Bewegung Ostturkestan könnte mit ein wenig Hilfe westlicher Geheimdienste leicht einige Taliban-Fraktionen in Afghanistan infiltrieren.

Nur sehr wenige im Westen verstehen die dramatischen psychologischen Folgen, die es für die Afghanen – unabhängig von ihrem ethnischen, sozialen oder kulturellen Hintergrund – hat, in den letzten vier Jahrzehnten im Wesentlichen in einem Zustand des ständigen Krieges zu leben: Besetzung durch die UdSSR, Kämpfe innerhalb der Mudschaheddin, Taliban gegen die Nordallianz und Besatzung durch die USA/NATO.

Das letzte „normale“ Jahr in der afghanischen Gesellschaft liegt weit zurück, nämlich 1978.

Andrei Kazantsev, Professor an der Higher School of Economics und Direktor des Zentrums für Zentralasien- und Afghanistan-Studien am Moskauer Elite-Institut MGIMO, ist in einer einzigartigen Position, um zu verstehen, wie die Dinge vor Ort funktionieren.

Er weist auf etwas hin, das ich selbst mehrfach erlebt habe: Die Kriege in Afghanistan sind eine Mischung aus Waffeneinsatz und Verhandlungen: Es wird ein bisschen gekämpft, ein bisschen geredet, es werden Koalitionen gebildet, dann wird wieder gekämpft und wieder geredet. Einige sind übergelaufen, haben sich gegenseitig verraten, eine Zeit lang gekämpft und sind dann zurückgekehrt. Es ist eine völlig andere Kultur der Kriegsführung und des Verhandelns.

Die Taliban werden gleichzeitig mit der Regierung verhandeln und ihre Militäroffensiven fortsetzen. Dies sind nur verschiedene Instrumente verschiedener Flügel dieser Bewegung.

Ich kaufe: Wie viel?

Die wichtigste Faktum ist, dass die Taliban de facto eine Konstellation von Warlord-Milizen sind. Das bedeutet, dass Mullah Baradar in Tianjin nicht für die gesamte Bewegung spricht. Er müsste mit jedem größeren Warlord und Kommandeur eine Schura abhalten, um ihnen einen wie auch immer gearteten politischen Fahrplan zu verkaufen, den er mit Russland und China vereinbart.

Dies ist ein großes Problem, da bestimmte mächtige tadschikische oder usbekische Befehlshaber es vorziehen werden, sich mit ausländischen Partnern, z.B. der Türkei oder dem Iran, zu verbünden, anstatt mit wem auch immer es in Kabul an der Macht sein wird.

Die Chinesen könnten einen Umweg finden, indem sie buchstäblich jeden und seinen Nachbarn mit einbeziehen. Aber das garantierte immer noch keine Stabilität.

Mit den Investitionen, die Russland und China bei den Taliban tätigen, sollen eiserne Garantien erwirkt werden:

  • Den Dschihadisten nicht gestatten, die zentralasiatischen Grenzen zu überschreiten – besonders Tadschikistan und Kirgisistan;
  • den Kampf gegen ISIS-Khorasan aufzunehmen und ihnen keinen Unterschlupf zu gewähren, wie es die Taliban in den 1990er Jahren mit Al-Qaida taten; und
  • den Schlafmohnanbau (Sie haben ihn bereits in den frühen 2000er Jahren abgeschafft!) zu beenden und gleichzeitig den Drogenhandel zu bekämpfen.

Niemand weiß wirklich, ob der politische Flügel der Taliban in der Lage sein wird, seine Verpflichtungen zu erfüllen. Doch mehr noch als Beijing hat Moskau deutlich gemacht: Wenn die Taliban bei den Dschihadisten-Bewegungen nachgeben, werden sie den vollen Zorn der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit zu spüren bekommen.

(AdÜ: es zeigt sich deutlich, dass Moskau hier den Chinesen vertraut, die Taliban entsprechend beeinflussen zu können, jedoch gegenüber den Taliban zurückhaltender ist, was sich darin äußert, dass der Kreml die Taliban trotz gemeinsamer Gespräche immer noch nicht von der Liste der Terroristen-Organisationen gestrichen hat. Man will erst praktische Resultate sehen, was sich mit der angespannten Lage im Kaukasus und dem Medschli-Problem auf der Krim erklären lässt, die immer wieder im Auftrag der Führung in Kiew terroristisch tätig werden)

Die SCO hat ihrerseits seit 2005 eine Kontaktgruppe für Afghanistan eingerichtet. Afghanistan hat Beobachterstatus bei der SCO und könnte als Vollmitglied aufgenommen werden, sobald eine politische Einigung erzielt wurde.

Das Schlüsselproblem innerhalb der SCO wird darin bestehen, die kollidierenden Interessen Indiens und Pakistans in Afghanistan in ein harmonisiertes Gleichgewicht zu bringen.

Das wird einmal mehr von den „Supermächten“ abhängen – der strategischen Partnerschaft zwischen Russland und China. Und einmal mehr wird dies der Kern des wohl größten geopolitischen Rätsels der „Raging Twenties“ sein: Wie kann der „Friedhof der Imperien“ endlich befriedet werden?


Ausklang in Tianjin

Soweit zu Pepes Text, jetzt noch eine wichtige Ergänzung.

Am 25. Juni 2021 wurde die stellvertretende US-Außenministerin Wendy Sherman vom stellvertretenden Außenminister der Volksrepublik China Xie Feng zu Gesprächen ebenfalls in Tianjin empfangen!

Dieses Zusammentreffen verlief sichtlich keinesfalls so freundlich, wie das mit den Nachbarn.

Alleine der Titel , unter dem das Organ der Kommunistischen Partei berichtet, ist für chinesische Ausdrucksweisen ein knallharter Tritt vors Schienbein:

On US arrogance, China should be more direct: Global Times editorial

Eine der Kernaussagen des Editorials ist:

Während der Gespräche in Tianjin übermittelte China den USA zwei Listen mit Hauptanliegen, die von Washington einen Kurswechsel verlangen. Ein Großteil des Inhalts bezieht sich auf die Grundrechte der chinesischen Bevölkerung und Institutionen. China bettelt die USA nicht an. Vielmehr sollten die USA, die angeblich eine verantwortungsvolle Großmacht sind, sich selbst korrigieren.

Die USA müssen eine grundlegende Realität akzeptieren: China hat sich in den letzten Jahren schneller entwickelt als die USA, und der Trend, dass Chinas Wirtschaft die der USA in Zukunft übertreffen wird, ist unumkehrbar. Die USA müssen lernen, mit einem starken und unabhängigen China in Frieden zu leben. Es ist die Illusion der USA, Chinas Entwicklung einzudämmen und China ins Chaos und in den Zusammenbruch stürzen zu können, wie sie es mit der Sowjetunion getan haben. Damit würden die USA nur die Weltordnung durcheinander bringen und die Konflikte zwischen den Großmächten verschärfen. Chinas System stellt sicher, dass wir eine größere Toleranz für Chaos haben als die USA.

Da solche Treffen, sowohl mit einer hohen US-Diplomatin als auch mit den Taliban, von langer Hand vorbereitet werden, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass es durchaus beabsichtigt war und Symbolcharakter trägt, am selben Ort erst den Amis eine mit zu geben und danach mit den Nachbarn ein Grillfest zu feiern.