Cancel Culture. Jewgenij Iwanowitsch Samjatins Brief an Stalin. Eine Aktualisierung

Intro

Hier trage ich den Brief vor, welchen Jewgenij Iwanowitsch Samjatin an Jossif Wissarionowitsch Stalin geschrieben hatte mit der Bitte um Ausreise.

Dieser Brief ist ein historisches Dokument und ich beschreibe hier, warum er immernoch aktuell ist.

I.

Da die meisten Menschen in Deutschland mit dem Namen Samjatin nicht viel anfangen können, ihn wahrscheinlich noch nie gehört haben, möchte ich ihn kurz vorstellen.

Dafür beschränke ich mich auf Daten, die so weit gesichert sind, dass sie dem Anspruch Jean-Paul Sartres gerecht werden, den er in seinem „L‘idiot de la famille“ zur Beantwortung der Frage „Was können wir über einen Menschen wirklich wissen?“ zugrunde legt.

Jewgeni Samjatin wurde am 1. Februar 1884 in Lebedjan in Russland geboren. Er starb am 10. März 1937 in Paris.

Samjatin hatte am Polytechnikum in St. Petersburg studiert und wurde Schiffbauingenieur. Er war mit der Konstruktion mehrerer Eisbrecher beauftragt, unter anderem den ersten richtig großen der Sowjetunion, der, wie zu erwarten war, unter dem Namen Lenin in See stach.

So spektakulär Schiffbauingenieur klingt, kam die Zeit, dass ihm die Schiffbauerei zu wenig kreativ war. Es klingt sehr vielgestaltig und interessant, Eisbrecher zu entwerfen und so weiter. Jedoch, da muss man bedenken: Das ist vor allem Mathematik und technisches Zeichnen. Was die Mathematik anbelangt, gab es damals keine Taschenrechner, es gab keinen Computer, gerade einmal Rechenschieber, jede noch so kleine Berechnung musste der Ingenieur mit seinem eigenen Kopf durchführen. Bereits während des Studiums hatte Samjatin damit begonnen kleinere Prosa zu schreiben und entwickelte sich nach und nach zum professionellen Schriftsteller, was er dann zu seinem Hauptberuf machen wollte.

Einer der wichtigsten Fakten ist, dass er von Gründung 1902 an Bolschewik war. Im Revolutionsjahr 1905 spielte er eine Rolle im Zusammenhang mit dem durch Eisensteins Film weltweit berühmt gewordenem Aufstand auf dem Panzerkreuzer Potemkin in Odessa.

Wikipedia schreibt, er habe diesen Aufstand mit organisiert. Das ist Unsinn, der Wikipedia-Autor hätte Samjatins Autobiografie lesen sollen, ehe er den Eintrag verfasst, der war auf dem Panzerkreuzer Rossija als Praktikant im Schiffbau stationiert.

Die Rossija gehörte zu jenen Schiffen, die geschickt wurden, die Potemkin am Auslaufen zu hindern, bzw. wenn sie doch ausläuft, sie zu versenken.

Bekanntermaßen führten die Schiffe diesen Befehl nicht aus.

Sie legten in Odessa an, wo Samjatin von Bord ging und einen Versuch, die Stadtverwaltung zu stürzen, mit organisierte. Die Stadtverwaltung hatte auf Bevölkerung, die der Potemkin geholfen hatte, schießen lassen. Trotz breiter Unterstützung der Ortsansässigen scheiterte der Versuch, Samjatin wurde inhaftiert, aber bereits im Jahr darauf amnestiert.

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges hielt er sich in England auf, wo er die britische Krone, im Auftrage des russischen Militärs, dabei unterstützte, eine modernere Kriegsflotte aufzubauen. In Großbritannien, der Herrin der Sieben Meere, wusste man nicht, wie man Eisbrecher baut. Samjatin war Spezialist. Er konnte es ihnen beibringen.

1917 rief die Revolution. Es hielt ihn nicht länger im UK, er kehrte nach Russland zurück, um sich einzubringen. Jede Hand wurde gebraucht.

Schon früh zeigte sich, dass die Revolution nicht das brachte, was ihre Vorkämpfer im Sinn hatten.

1920 schrieb er jenes Werk, das eine neue Literaturgattung begründen sollte, den Roman „Wir“, „Мы“. Die Gattung wurde damals „negative Utopie“ bezeichnet, heute sprechen wir von Dystopie.

Seit der Französischen Revolution war utopisches Denken und Ausdenken weit verbreitet, das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert der politischen Neugestaltung, Utopien waren Vorstellungen, wohin die Reise gehen sollte.

Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert technischer Erfindungen und Technisierung, geprägt von Insustrialisierung, wie sie bis dahin unvorstellbar gewesen war. Autroren wie Jules Verne, ebenfalls Ingenieur im bürgelichen Beruf, fabulierten in ihren Geschichten Möglichkeiten aus, in einer generell positiven, optimistischen Grundhaltung, auch wenn Jules Vernes die Gefahr der Verwendung von moderner Technologie für Zwecke des Krieges oder des Verbrechens durchaus thematisierte.

Samjatins hatte sich in der Zarenzeit an beidem aktiv beteiligt: als Bolschewistischer Revolutionär war er politischer Utopist, als Ingenieur, der Schiffe entwickelte, die sich den Weg durch das Ewige Eis bahnen können, war er technischer Pionier.

Er beschrieb, aus praktischer Erfahrung der Revolution und ihrer unmittelbaren Folgen, wohin es führen würde, wenn der revolutionäre Aufbau den Weg fortsetzten würde, wie er ihn eingeschlagen hat.

Er dachte den Bolschewismus in seiner Umsetzung zu Ende. Das konnte er nun tun. Denn war das utopische Denken in der Zarenzeit vorwiegend ein Phantasieren, das auf der Negation der aktuell herrschenden Verhältnisse beruhte, ist es durch die Revolution topisch geworden und hatte tatsächliche Erfahrungswerte geliefert, die nun zum Ausgangsmaterial wurden.

Die Ideen des Bolschewismus können die Menschen zu neuen Höhen führen. Wir haben es gesehen. Das rückständigste der europäischen Großreiche, das Russische Reich, entwickelte sich, trotz aller äußeren Widrigkeiten, der die UdSSR ausgesetzt war, zur einzigen relevanten Gegenmacht gegen die USA. Doch welchen Preis zahlen die Menschen dafür? Ist es diesen hohen Preis wert?

Das Werk sollte seine Genossinnen und Genossen aufklären, animieren, die revolutionäre Praxis neu zu denken, wurde jedoch zur Veröffentlichung abgelehnt und als Nestbeschmutzung diffamiert.

Samjatin gelang 2025 eine Erstveröffentlichung in englischer Übersetzung im UK.

Das führt uns zur Bedeutung des Romanes in der westlichen Hemisphäre. Sowohl Aldous Huxleys 1932 veröffentlichter Roman „Brave New World“ als auch George Orwells „Nineteen eighty-four“ griffen Motive aus „Wir“ auf und entwickelten sie jeweils innerhalb der von deren Autoren zu bearbeiternden Aspekten weiter.

Samjatin denkt aus dem Prozess der Revolution heraus.

Die Idee der politischen Revolution erfüllt Menschen mit der Hoffnung auf ein bessres Leben. Der erste Weltkrieg hatte alles Vertrauen in die alten Autoritäten verbrannt. Staaten, die ihre Bürger in eine solche Hölle stürzen, haben ihr Existenzrecht verwirkt. Die Revolution kam mit Notwendigkeit.

Die Praxis der politischen Revolution lehrt, wie klein der Mensch ist und wie viel Selbstüberschätzung ihn blenden kann. Man kann sich des Alten entledigen. Doch das Neue, welches aus den Trümmern der alten Welt entstehen soll, von wie vielen Faktoren es doch abhängt, die den Einzelnen unendlich viel stärker in ihren Sog ziehen, als er selbst etwas beeinflussen könnte.

Huxley und Orwell erkannten die Parallelen im Kontext des seit dem Ersten Weltkrieg spürbar in Zerfall und Untergang einmündenden britischen Weltreiches und führten die gesellschaftlich-politischen Motive unter diesem Blickwinkel weiter aus.

Die Ergebnisse sind teilweise unterschiedlich,aber in der Konsequenz für das menschliche Individuum gleich.

Auch künstlerisch ist das Werk bahnbrechend. Es ist nicht der Russische Futurismus, wie ihn Majakowskij oder Chlebnikow betrieben, es ist das, was danach kommt.

Samjatin sah sich bald derart heftigen Angriffen ausgesetzt, dass er 1931 nach Paris emigrierte, wo er nur wenige Jahre vor der deutschen Invasion starb.

Um aus der UdSSR auszureisen bedurfte es der Genehmigung durch den Staat. Sein Brief an Stalin beantragt die Ausreise und begründet warum.

Jewgenij Samjatin war ein Mann, der in jedem Betreff seines Lebens kompromisslos zur letzten Konsequenz gegangen war.

Er wusste, warum er Bolschewik wurde, und war seiner Vorstellung von Revolution und ihren zu erkämpfenden Zielen bis zum Tode treu geblieben. Er blieb Sowjetbürger und wurde keiner der Exilanten, die sich für die Politik der Gegner ihrer Heimat einspannen ließen.

II.

Die Russische Revolution war auch angedacht und in die Wege geleitet worden, um das russische Geistesleben zu befreien. Lenin, das Wissen haben heute nicht mehr viele, hatte sich in dieser Hinsicht an der Schweiz orientiert.

Es kam anders. Die Russische Revolution wurde auch bekannt als Initiator dessen, was wir heute Cancel Culture nennen.

Cancel Culture ist das signifikante Phänomen, welches sich durch die Geschichte der gesamten europäischen Linken zieht. Es ist Teil ihrer DNA. Sie wütet innerhalb der Linken immer, wird dann aber zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem, sobald Linke an politischem Einfluss gewinnen.

Es ist gar kein Wunder, sondern folgerichtige Entwicklung, dass es die sogenannte Ampelregierung war, die Herrschaft des linken Spektrums über Deutschland, welche die beginnende Eskalation der Internetzensur mit sich brachte, als auch die Verfolgung einfacher Bürger durch die Justiz, samt Hausdurchsuchungen und Einziehen von elektronischen Geräten, Handy, Computer, Festplatten, nach § 188 StGB, und weitere Maßnahmen der Einschüchterung, um mich sachte auszudrücken, der Bevölkerung.

Die Förderung von NGOs, die linke Studenten beschäftigen, regelrechte Menschenjagden zu veranstalten, gehört hierher.

Hier findet man eine einzige Firma, die nicht dem linken Spektrum zuzuordnen geht, die Firma SoDone, welche von FDP-Politiken betrieben wird. Was zu dem Einwand führt: Das Rechts-Links-Schema heute noch anzuwenden, führt in die Irre. Kriegstreiberei wird von Linken betrieben, wer sich dem Krieg entgegenstellt, verortet die moderne Politik rechts. Wir sollten eher sprechen von einem progressiven Spektrum des Progressiven willen, dann bekommen wir Links und FDP zusammen.

Es ging mit der Ampel einher, Cancel Culture zur allgegenwärtigen Bedrohung zu machen. Wer schreibt, Bilder publiziert, Videos macht, soll ständig im Kopf haben, dass ein einziges inkriminiertes Wort ausreicht, von der Staatsanwaltschaft heimgesucht zu werden. In einem Zeitalter, in dem die Menschen beruflich und privat von der Nutzung elektrischer Geräte abhängig sind, ist diese Bedrohung alleine dadurch gewaltig, als Rechner, Festplatten und Smartphones vom Staat regelrecht geraubt werden.

Das ist erstens teuer, machte zweitens viel Arbeit und man verliert eine Menge Daten, die gar nichts mit dem vermeintlichen Delikt zu tun haben.

Verbote von Konzerten, ich erinnere an Roger Waters, als ganz besonders absurdes Beispiel, von Veranstaltungen, der Friedensforscher Daniele Ganser sei hier beispielgebend erwähnt, und wo der Staat nicht zuschlug oder die Politik nicht zuschlagen konnte, weil Gerichte sie noch im Zaum hielten, fanden Aufmärsche gewaltaffiner Rotten statt.

Cancel Culture ist Gewalt.

Es ist die feigste und verlogenste Ausübung von Gewalt.

Cancel Culture bedeutet die psychische und ökonomische Vernichtung von Menschen, unter einem Deckmantel der Selbstdarstellung der Gewalt-ausübenden, sich selbst als gut und gerecht darzustellen.

Nichts daran ist gut und gerecht.

Man verunmöglicht das Leben eines Menschen. Es ist die Vorstufe des Tötens.

Mit welchem Ziel?

Einige sind folgende:

Im kleinen Bereich, sich die Herrschaft über eine Gruppe von Menschen anzueignen.

Im Großen, die eigene Herrschaft abzusichern oder seine Karriere zu befördern.

Sich denjenigen gefügig zu machen, den man cancelt.

Neid, Eifersucht spielen ihre Rolle, Missgunst.

Oder ein Gefühl der eigenen Unterlegenheit, dessen man sich entledigt, indem man die Person, durch die man sich klein fühlt, beseitigt.

Letzteres mag im Falle Samjatin eine vorzügliche Rolle gespielt haben. Samjatin war eine Art Naturgewalt gewesen. Bolschewik der ersten Stunde, trug er als Ingenieur zur Industrialisierung des rückständigen Russlands bei, in einem Bereich, in dem Russland, danach die UdSSR, zu seiner Zeit Pionierarbeit leistete und die unangefochtene Weltführung erlangen sollte, dem Eisbrecher, schickte er sich an, eine bedeutende Rolle in der Kulturentwicklung der UdSSR einzunehmen, die dank seiner besonderen Talente unvermeidlich würde, wenn man ihn nicht hinterrücks stoppt. In den Gründerjahren der UdSSR war die Arbeit der Kulturschaffenden besonders wichtig, da sie viel dazu beitragen konnten, welchen Weg die Revolution gehen wird. Die meisten revolutionären Literaten wurden in jenen Jahren zum Schweigen gebracht, oder zumindest an den Rand gedrängt, wie Michail Afanassjewitsch Bulgakow, der ebenso wie Samjatin um Ausreise ersuchte. Die Literatur ist die angreifbarste aller Künste, da sie mit Worten arbeitet und eindeutige Aussagen trifft.

Cancel Culture ist auch das Verhindern eines Menschen durch solche, die darauf angewiesen sind, verdeckt und aus dem Dunkel heraus zu agieren. Solange es den gibt, den sie canceln, entkommen sie dem Dunkel nicht. Denn träten sie aus dem Dunkel heraus, kämen sie nicht weiter als in dessen Schatten.

Einäugige, die nachts Schlafenden die Augen ausstechen, weil sie gehört haben, unter Blinden sei der Einäugige König.

Cancel Culture ist ein Phänomen, das mit Links zwangsläufig einhergeht.

Dieses Phänomen und seinen Zusammenhang mit Links/Linken genau zu untersuchen, ist längst überfällig.

Cancel Culture ist eine Ausprägung dessen, was die Frankfurter Schule Autoritären Charakter nannte, die von der Frankfurter Schule nicht untersucht wurde.